LINN LÜHN

CHRISTOPH SCHELLBERG

March 14 – May 16, 2015

Christoph Schellberg zeigt in dieser unbetitelten Ausstellung eine Sammlung von Zeichnungen, die der Künstler in den vergangenen sieben Jahren angefertigt hat. Keine Malereien. Keine Gouachen. Keine Zeichnungen mit Farbe, obwohl manche der Kompositionen, mit ihren dicken Linien und leuchtenden Farben, ohne Weiteres für solche gehalten werden könnten. Zeichnungen. Was der Künstler präsentiert, was er mit uns teilen möchte, sind Zeichnungen.

Oft denken wir, Zeichnen und Malen seien ein und dasselbe. Gelegentlich vertauschen wir die Worte miteinander. Wenn wir unser Vokabular jedoch näher prüfen, stellen wir fest, dass die beiden Begriffe sich auf zwei gänzlich unterschiedliche Modalitäten beziehen. Beim Malen bringt man Farbe auf etwas auf. Man bedeckt eine Oberfläche, man bringt Farbe an eine Wand. Im Gegensatz dazu wird Zeichnen von irgendwoher ausgeführt. Man zeichnet aus Erfahrung, man zeichnet eine gedruckte Linie nach. Malen und Zeichnen sind transitive Verben und bezeichnen eine Bewegung von irgendwo nach anderswo. Der Unterschied ist, dass Malen das Anderswo bestimmt, während Zeichnen sich ausschließlich auf das Irgendwo bezieht. Tatsächlich stammt Malen etymologisch vom sanskritischen peik- ab, was „schneiden“ bedeutet, während Zeichnen im sächsischen dragan wurzelt, was so viel bedeutet wie „zerren“ oder „ziehen“. Malen, peik-, zeigt die Richtung an, in die sich das Messer bewegt; Zeichnen, dragan, zeigt, wo es herkommt.

In diesem Sinne unterscheiden sich Zeichnen und Malen in zweierlei Hinsicht. Erstens vermittelt Malen das Verhältnis zwischen Hand und Außenwelt, d.h. einer Oberfläche oder einer Wand, wohingegen Zeichnen die Interaktion von Hand und Körperlichkeit, von der sie selbst Teil ist, reflektiert: Körper und Verstand mit allem Drum und Dran. Zweitens bestimmt Malen ein Endprodukt, welches von einer nahezu teleologischen Endgültigkeit gekennzeichnet ist. Zeichnen dagegen bezieht sich auf einen Prozess. Sobald jemand vom Messer verwundet wurde, ist der Kampf vorbei. Das Messer zu ziehen bedeutet, dass der Kampf erst beginnt. Tatsächlich ist einer Zeichnung die Malerei, was einer Architekturzeichnung das Gebäude ist; die Zeichnung ist nicht der Schnitt, sondern der Schatten des Schnitts. Wenn Zeichnen daher weniger direkt einschneidet als Malen, so ist es auch deutlich experimenteller: wörtlich und metaphorisch gesprochen ist es ein Raum, in dem verschiedene Geschwindigkeiten und unterschiedliche Methoden, das Messer zu ziehen, ausprobiert werden können.

Vor einiger Zeit habe ich die Ausstellung ‘Abstract Art and Society 1915-2015’ in der Londoner White Chapel Gallery besucht. Wie der Titel vermuten lässt, kontemplierte die Ausstellung über ein Jahrhundert Abstraktion in der Kunst, von Malevichs modernistischem Utopismus des frühen zwanzigsten Jahrhunderts zu poststrukturalistischen Dekonstruktionen des Alltäglichen, wie sie in den 1980ern populär waren; von Projekten, die Abstraktion als Modell des Leben begriffen, zu solchen, die Abstraktion als Repräsentation des Lebens verstanden. Vertreten waren Gemälde von Mondrian, Fotografien von Rodchenko, Collagen von Holzer, eine Woll-Skulptur von Trockel und sogar eine Lichtinstallation von Dan Flavin. Ich erinnere mich ein Fragment von Legers Film Ballet Mechanique gesehen zu haben. Aber ein Genre, das in der Ausstellung nicht oder kaum vertreten war, ist die Zeichnung. Die Geschichte der Abstraktion in der Kunst, so schien es, ist eine Geschichte von Statements, nicht von Experimenten. Ich bin kein Kunsthistoriker, dennoch bin ich mir aufgrund des Wenigen, das ich über die Abstraktion in der Kunst des zwanzigsten Jahrhunderts weiß, recht sicher, dass dies nicht wahr ist. Aber selbst wenn es wahr sein sollte, würde ich mir wünschen, dass dem nicht so wäre. Die Stärke der Abstraktion liegt nicht in dem, was sie als Gegebenes ist, sondern in dem, was sie sein könnte - die ihr eigene Kraft ist nicht Iteration, sondern stete Rekonfiguration.

Schellberg ist es mit dieser Ausstellung gelungen, jenen Sinn für das Experimentelle zurück zu führen in den Kanon abstrakter Kunst. Indem er weiße Flächen auf organisch gefärbtes Papier zeichnet, verschiedenste Formen umreißt, manchmal dick, manchmal fragil, hier im Einklang mit den Eigenschaften des Papiers, dort im Kontrast zu diesen, die Möglichkeiten dreidimensionaler Schatten aufzeichnet, ohne diese Wirklichkeit werden zu lassen, die Spannung zwischen dem zwei- und dem dreidimensionalen Virtuellen aufrecht erhält, wiederbelebt er die Abstraktion nicht, indem er den ohnehin toten Körper der Tradition aufschneidet, sondern indem er neue Methoden findet, sein Messer zu ziehen. Die Ausstellung in der White Chapel Galerie dokumentiert die Geschichte der Abstraktion. Schellbergs Zeichnungen markieren die Zukunft - nicht eine bestimmte Zukunft, sondern die Möglichkeit vieler Zukunftsformen, die alle gefunden, alle entdeckt werden können, wenn man nur genau hinschaut.

Timotheus Vermeulen

 


 

With this untitled exhibition, Christoph Schellberg present a collection of drawings the artist made over the past seven years. Not paintings. Not gouaches. Not drawings with paint, though some of the compositions, its lines thick, colors vibrant, might be easily mistaken for it. Drawings. What the artist puts on display, what he wishes to share with us, are drawings.

We often think of drawing and painting in the same vein. We occasionally use the words interchangeably. Yet if we consider our vocabulary more closely, we can see that they refer to two rather different modalities. If you paint, you apply paint onto something. You cover a surface, you apply color onto a wall. Drawing, by contrast, is done from somewhere. One draws from experience; one traces a line printed elsewhere. Both painting and drawing are transitive verbs, designating a movement from somewhere to elsewhere. The difference is that painting specifies the elsewhere whereas drawing refers exclusively to the somewhere. Indeed, etymologically, the former stems from the Sanskrit peik-, which means “to cut”, whilst the latter has its roots in the Saxon dragan: to drag, to pull. Painting, peik-, motions the direction the knife is going; drawing, dragan, indicates where it’s coming from.

In this sense, drawing and painting differ in two respects. First, painting meditates the relationship between the hand and the external world, i.e. the surface or the wall, whereas drawing reflects on the interaction between the hand and the corporeality of which it is part: body, mind, the whole shebang. Second, related to this, painting designates an end product; it is marked by an almost teleological finality. Drawing, on the other hand, refers to a process. Once you’ve cut someone, the fight is over. Drawing the knife means it still has to begin. Indeed, a painting is to a drawing what a building is to the architect’s plan; the drawing is not the cut but the specter of the cut. If this makes drawing less immediately incisive, it also makes it more hauntingly experimental, a space, literal and metaphorical, for trying out different speeds and moves of pulling out the knife.

Some time ago I visited the exhibition ‘Abstract Art and Society 1915-2015’ at the Whitechapel Gallery in London. As the title suggests, the show contemplated a century of abstraction in art, from the early twentieth century modernist utopianism of Malevich to the poststructuralist deconstruction of the everyday popular in the 1980s; from those projects which conceived abstraction as a model for life, to the ones that perceived it as a representation of it. There were paintings by Mondrian, photographs by Rodchenko, collages by Holzer, a wool sculpture by Trockl and even a light installation by Dan Flavin. I remember seeing a fragment of Leger’s film Ballet Mechanique. But a genre that wasn’t part of the retrospective, not really at least, was drawing. The history of abstraction in art, so it seemed, was a history of statements rather than experiments. I am no art historian, but from the little I know about twentieth century abstraction, I am pretty sure this is not true. But even if it were, I would wish it wasn’t. The power of abstraction lies not in what it is, but in what it may be – the power it yields is not one of iteration but of continuous reconfiguration.

Christoph Schellberg’s major achievement in this exhibition is to return this sense of experimentation to the canon of abstract art. Drawing out white zones on organically colored paper, outlining forms in all shapes, sometimes thick, other times fragile, now resonating with the paper qualities, then contrasting with them, tracing the possibilities of three-dimensional shadows without actualising them, keeping the tension between the two and three-dimensional virtual, he revives abstraction not by cutting the already dead body of the tradition, but by re-envisioning new ways to pull his knife. The exhibition in the White Chapel gallery documented the history of abstraction. Schellberg’s drawings here mark its future – not any one future in particular, but the possibility of many futures, all to be found, all to be discovered, if you just look close enough.

Timotheus Vermeulen

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